Gedanken zur Lage der SPD und zum politischen Handeln von Bundeskanzlerin Merkel

Prof. Dr. Hans Eberwein
Prof. Dr. Georg Feuser

03. November 2015

Offener Brief

an die Mitglieder des Präsidiums und des Parteivorstands der SPD
sowie an die Regierungschefs der Länder

Gedanken zur Lage der SPD und zum politischen Handeln von Bundeskanzlerin Merkel

Eine kritisch-konstruktive Analyse

Wir nehmen die Halbzeit der schwarz‐roten Regierungskoalition sowie das Verhalten von Bundeskanzlerin Merkel zum Anlass, die nachfolgende Stellungnahme abzugeben. Sie steht im Zusammenhang mit einem beabsichtigten Antrag, der auf dem Bundesparteitag der SPD im Dezember 2015 behandelt werden soll, wonach auch Nichtmitglieder Vorschläge für politische Veränderungen machen können.

Nach unserer Ansicht war es 2013 erneut ein gravierender Fehler mit weitreichenden politischen Folgen, mit der CDU eine Koalition einzugehen. Die Bundeskanzlerin hatte einen klugen Schachzug getan, um sowohl ihre Macht zu sichern, als auch erneut eine rot‐rot‐grüne Regierungsmehrheit, die schon früher möglich gewesen wäre, zu verhindern. Durch die Regierungsbeteiligung der SPD konnte Frau Merkel außerdem zentrale politische Themen der SPD für sich und ihre Politik vereinnahmen. Die SPD hat zwar ihre wichtigsten politischen Anliegen, den Mindestlohn, die Rente mit 63 sowie familienpolitische Verbesserungen durchgesetzt, aber, wie die Umfragen zeigen, ist dies von den Wählerinnen und Wählern nicht der SPD, sondern dem Konto von Frau Merkel und damit der CDU/CSU gutgeschrieben worden. Egal, was die SPD als Koalitionspartner veranstaltet, sie profitiert davon nicht. Es ist bedauerlich und politisch folgenreich, dass die Führung der SPD diesen Mechanismus und die daraus resultierenden Konsequenzen offensichtlich nicht zur Kenntnis nimmt. Hinzu kommt die für uns gravierende Fehlentscheidung, dass Herr Gabriel das falsche Ministeramt für sich reklamiert hatte: anstatt das Finanzministerium das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, vermutlich um die Wirtschaftskompetenz der SPD unter Beweis zu stellen. Es hätte 2013 mit Gregor Gysi, der nun leider nicht mehr zur Verfügung steht, die Möglichkeit gegeben, eine linke Mehrheit zu bilden oder aber eine  Minderheitsregierung der CDU zu tolerieren.

Nun zeigt sich nach zwei Jahren durch Fehlentscheidungen seitens Frau Merkel, dass es im Zusammenhang mit der Flüchtlingspolitik aufgrund deren massiven Konsequenzen für die deutsche Innenpolitik zu politischen Verwerfungen und zu schweren Verteilungskämpfen kommen wird. Wir gehen deshalb davon aus, dass die jetzige Koalition diese Probleme nicht unbeschadet überstehen wird. Wir schließen sogar ein vorzeitiges Ende der Regierungszeit von Frau Merkel nicht aus. Sie hat als Regierungschefin in dieser Frage nicht rational und nicht vom Ende her gedacht, sondern emotional und spontan reagiert, was sich sofort als eine Fehlleistung erwies. Vielleicht wollte sie nach der öffentlichen Kritik an ihrem hartherzigen Verhalten gegenüber dem palästinensischen Mädchen in Rostock einmal Humanität beweisen. Vielleicht war sie auch auf der Suche nach einem politischen Projekt, mit dem sie analog zur Westbindung von Adenauer und der Ostpolitik von Willy Brandt ihre Kanzlerschaft prägen und einen Eintrag in die Geschichtsbücher sichern wollte. Es ist außerdem möglich, dass Frau Merkel die Absicht verfolgte, Handlungsstärke zu demonstrieren, um eine Entwicklung zu beeinflussen und zu widerlegen, die in der Jugendszene in Deutschland immer stärkere Verbreitung findet, nämlich zu „merkeln“, d. h., abzuwarten, nicht zu entscheiden, auszusitzen, was sich in der Tat auch als ein pädagogisch fragwürdiges Signal und Vorbildverhalten einer Kanzlerin gegenüber der Jugend erweist. Deutlich wird, dass ihr Stern, sowohl national wie auch europapolitisch, weiter im Sinken begriffen ist (man erinnere sich nur an den Umgang mit Griechenland). Da sie nicht die menschliche Größe besitzt, eine falsche Entscheidung in der Flüchtlingspolitik öffentlich zuzugeben und zu korrigieren, eröffnen sich der SPD neue Perspektiven. Wir sind der Meinung, dass es taktisch unklug war und wäre, die Politik der SPD in der sog. Mitte verorten zu wollen, die undefiniert und schwammig bleibt, es sei denn die SPD möchte sich in die CDU integrieren. Wahlen können eben nicht nur in einer nebulösen und konturlosen Mitte, sondern auch hinsichtlich ihrer historischen und aktuellen sozialpolitischen Bedeutung linken Positionen gewonnen werden, wie wir aus anderen europäischen und südamerikanischen Ländern lernen können. Nach der erneuten Anbiederung an die CDU 2013 um den Preis der Aufgabe zentraler Positionen hat die SPD 2017 ohnehin keine andere machtpolitische Alternative, als mit den Grünen und den Linken eine Mehrheit anzustreben, will sie sich nicht vollends aufgeben.

Das langjährige Verharren der SPD im 25%‐Ghetto hat sich durch die Beteiligung an der Regierung mit der CDU mit ihren Pyrrhussiegen nicht verändert. Die Führungsgremien der SPD sollten deshalb begreifen, dass es machtpolitisch notwendig ist, die einst „entlaufenen Kinder“ der SPD , Grüne und Linke, wieder „einzufangen“, um dann gemeinsam als „Vereinigte Linke“ die 40%‐Marke zu überschreiten. Wir befürchten für die SPD ein Desaster sowie eine weitere Abspaltung, wenn es ihr nicht gelingt, spätestens 2017 geschlossen (Netzwerker, Seeheimer und Linke zusammen) eine Koalition mit Grünen und Linken im Bund zustande zu bringen.

Aber es geht nicht nur ums Überleben der SPD, sondern auch um das Durchsetzen einer linken Politik, die einzige für uns erkennbare Alternative zur bisherigen Regierungspolitik. Der sog. Markenkern der SPD, die Sozialpolitik, d. h., soziale Verantwortung, soziale Gleichheit und Gerechtigkeit, sind in der Koalition mit der CDU/CSU weitgehend unter die Räder gekommen, so z. B. der soziale Wohnungsbau für 40 000 Wohnungslose; die Stärkung von Mitspracherechten der Arbeitnehmer, ihre Beteiligung am Produktivvermögen, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, einer Reichensteuer und eine Erhöhung der Erbschaftssteuer (noch nie gab es in Deutschland so viele Millionäre und so große Erbschaften wie zur Zeit), aber auch und vor allem eine humane und demokratische Politik für die so genannten sozialen Randgruppen in unserer Gesellschaft, die sich längst nicht mehr aus eigener Kraft aus ihrem Prekariat zu befreien vermögen. Die Mittelschicht schrumpft zudem immer mehr und wird in Relation zu den „Reichen“ über Gebühr belastet. Die Umsetzung der UN‐Behindertenrechtskonvention kommt (vor allem im Erziehungs‐, Bildungs‐ und Unterrichtssystem) nur schleppend voran und mündet oft in Stillstände. Die seit der ersten PISA-Untersuchung 2000 jedes Jahr aufs Neue festgestellte Korrelation von sozialer Herkunft und Schulleistung wird unverändert fortgeschrieben. Die Unterstützung der sog. „Leichten Sprache“ (vor allem durch Politiker, die gerne und oft schwierige Sätze und Fremdwörter benutzen gegenüber 50% der Bevölkerung, die keinen akademischen Abschluss haben) erfolgt nicht. Die Ausstattung von Kitas und Schulen mit mehr Erzieherinnen, Lehrern, Sozialarbeitern, Schulpsychologen, Schulärzten; aber auch Psychotherapeuten zur Behandlung von Asylbewerbern, die nach einer Studie zu 40% an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden, für die jedoch das Asylbewerberleistungsgesetz nicht aufkommt, sind zu nennen. Außerdem die Reaktivierung der „Bürgerversicherung“, einst ein wichtiges Vorhaben der SPD für mehr soziale Gerechtigkeit, die sie jedoch auf dem Altar der großen Koalition klaglos geopfert hat; des Weiteren die Zusammenlegung der Stadtstaaten mit anderen Bundesländern und deren Reduzierung insgesamt; die völlige Auflösung der föderalen Struktur im Bildungsbereich, d. h., die Abschaffung der Kultusministerien der Länder und die Einrichtung eines Bundeskultusministeriums sowie eines Nationalen Bildungsrates, der nicht von der KMK abhängig ist, die ihrerseits eher eine fortschrittsfeindliche und statussichernde Position einnimmt und verzichtbar ist; vgl. hierzu unser Manifest „Kritische Analyse der politischen Struktur unseres Schul‐ und Bildungssystems“ http://www.georg-feuser.com/conpresso/_rubric/detail.php?rubric=Aktuelles&nr=458).
Die von Frau Merkel und Frau Schavan 2008 ausgerufene Bildungsrepublik ist bis heute ohne Auswirkungen geblieben. Das ist ein typisches Merkmal der Politik der Bundeskanzlerin: Veränderungen anzukündigen (Wir müssen …), ohne sie umzusetzen und nun: „Wir schaffen das“ …. Im Zusammenhang mit dem Wahlkampf 2017 wäre deshalb für die Wählerinnen und Wähler eine Aufstellung aufschlussreich, die darüber informiert, was Frau Merkel in 12 Jahren Regierungszeit angekündigt hat und was davon verwirklicht worden ist. Im internationalen Vergleich der Bildungsausgaben in den OECD‐Staaten befindet sich die Bundesrepublik im letzten Drittel. Um große Worte war Frau Merkel noch nie verlegen. So hat sie auf der UN‐Generalversammlung in New York im September 2015 zur Verabschiedung globaler Nachhaltigkeitsziele im Hinblick auf die Beseitigung von Armut und Hunger bis 2030 gesagt: „Wir wollen und wir können unsere Welt verändern. Wir wollen und wir können der Welt ein menschliches Gesicht geben.“ In ihrem eigenen Land haben jedoch die Armut und Ungleichheit der Reichtumsverteilung in den letzten Jahre regelmäßig eine Zunahme erfahren (siehe: Bundesregierung 2001, 2005, 2008: Lebenslagen in Deutschland. Der 1., 2. und 3. Armuts‐ und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Bonn).

Es muss ab 2017 Schluss sein mit bloßen Ankündigungen, Versprechungen und Leerformeln, die bislang lediglich das Ansehen von Frau Merkel in der Bevölkerung erhöhen sollten. Ihre politischen Entscheidungen orientieren sich weitgehend an Umfrageergebnissen und zielen darauf ab, ihre Macht zu stabilisieren. Es genügt aber in Zeiten schwerer Krisen, Kriege, Umweltkatastrophen und Flüchtlingsströme nicht, ein „freundliches Gesicht“ zu zeigen. Es wird Zeit, dass in Deutschland wieder uneigennützige Politik für die Menschen, ihre Interessen und Bedürfnisse, besonders für sozial Benachteiligte und die längst ins Prekariat an den Rand der Gesellschaft abgedrängten Bevölkerungsgruppen gemacht wird, auch wenn das heute nicht mehr opportun erscheint – und auch um den Preis, aus der Opposition heraus, der SPD wieder ein entsprechendes Profil zu geben. Die Regierungsbeteiligung korrumpiert, wie wir mit Entsetzen feststellen müssen.

Wir empfehlen einen europaweiten Zusammenschluss aller linken Parteien und Regierungen der Nationalstaaten der EU, denn nur so ließe sich das erforderliche politische Gewicht herstellen, das den Einfluss der Großkonzerne durch deren immensen Lobbyismus auf die politischen Entscheidungsprozesse begrenzt und den Menschen in Europa durch mehr Mitbestimmung in Form von Volksentscheiden eine demokratische Willensbildung ermöglicht. So sind Geheimverhandlungen z.B. in Sachen TTIP als absolut undemokratisch zu ächten und nicht demokratisch legitimierte Gerichte, die seitens der Wirtschaft und Industrie Staaten verklagen können, in keiner Weise zu
tolerieren und entsprechende Verträge, die auch Deutschland diesbezüglich eingegangen ist, aufzukündigen.

Im Hinblick auf die Millionen Flüchtlinge in den Lagern der Türkei, dem Libanon und Jordaniens erklärte Frau Merkel am 24.09.2015 im Deutschen Bundestag: „Hier haben wir alle miteinander, und ich schließe mich da ein, nicht gesehen, dass die internationalen Programme nicht ausreichend finanziert sind.“ Die langjährige Ausländerbeauftragte des Berliner Senats, Barbara John, schrieb daraufhin im „Tagesspiegel“ vom 27.09.2015 auf Seite 72: Dies ist …“die Offenbarung eines gravierenden politischen Versagens der Bundesregierung in zentralen Fragen der Flüchtlingspolitik und der globalen Armutsbekämpfung“. In den genannten Lagern bekomme jeder Flüchtling täglich nur noch 0,40 Dollar. „Davon wussten die zuständigen deutschen Ministerien seit langem, denn das Büro des WFP der UN informierte sie ständig“. Hier wurden also der Bundestag und die deutsche Öffentlichkeit bewusst falsch informiert. Das genannte Verhalten als „Versagen“ zu bezeichnen, ist eine freundliche Interpretation.

Es kommt hinzu, dass Frau Merkel mit ihrer allein getroffenen Entscheidung „Wir schaffen das“ eine ganze Nation in Geiselhaft genommen hat und danach die Städte und Gemeinden, Landräte und Bürgermeister sowie alle Hilfsorganisationen, den Katastrophenschutz, die Polizei und Tausende Ehrenamtliche konzeptionslos im Stich gelassen und einem in der Sache inkompetenten und hilflosen Bundesinnenminister anvertraut hat. Es wurden weder der Bundestag informiert noch die EU‐Partner konsultiert. Frau Merkel hat des Öfteren darauf hingewiesen, dass es keine Obergrenze für Asyl gebe. Ihr Parteifreund, der Staats‐ und Verfassungsrechtler Rupert Scholz, hat sie jedoch im „Focus“ vom 17.10.2015 darüber belehrt, dass diese Auffassung falsch ist, da das Grundrecht auf Asyl einem unmittelbaren Gesetzesvorbehalt unterstehe.

Ein weiteres Problem ist das Dublin‐Abkommen, auf das sich Merkel beruft. Aber wer selbst keine EU‐Außengrenzen hat, kann leicht die Einhaltung des Abkommens sowie eine europäische und internationale Solidarität einfordern. Die letzten Treffen der EU‐Staats‐ und Regierungschefs haben gezeigt, dass sich die osteuropäischen Länder von Merkel nicht mehr dirigieren und kommandieren lassen. Dies haben sie unter der Vorherrschaft der Sowjetunion 45 Jahre lang ertragen müssen. Hinzu kommen wirtschaftliche Schwierigkeiten sowie Differenzen zwischen den Ländern Kroatien, Serbien und Slowenien. Und warum sollte Herr Erdogan, den Frau Merkel 10 Jahre lang als EU-Beitrittskandidat ohne Beitrittsperspektive vor den Kopf gestoßen hatte, für sie eine Flüchtlingssperre an der türkischen Grenze einrichten? Der Preis dafür wird sehr hoch sein und von den anderen europäischen Ländern nicht akzeptiert werden. Außerdem halten Migrantenforscher eine Grenzschließung für unmöglich und unmoralisch.

Frau Merkel hätte aufgrund der globalen und digitalen Vernetzung der Welt schon vor Jahren selber erkennen müssen, dass eine „Abschottung und Abriegelung im Zeitalter des Internets eine Illusion sind“ (so in ihrer Rede vor dem Europaparlament in Straßburg am 07.10.2015). Stattdessen hat sie in der Flüchtlingspolitik jahrelang den Kopf in den Sand gesteckt und Griechenland sowie Italien mit ihren Flüchtlingsströmen, auch die „mare nostrum‐Hilfsaktion“, im Stich gelassen und 5000 Menschen im Mittelmeer zusehend ertrinken lassen. Sie hat lediglich zur Abschottung der Grenzen „Frontex“, verharmlosend als Grenzschutz‐„Agentur“ bezeichnet, unterstützt. Diese Verhaltensweisen stellen einen unglaublichen Vorgang und eine grandiose Fehleinschätzung der gegebenen Verhältnisse sowie der Notwendigkeit von rechtzeitigen und effektiven Hilfen dar, was die SPD als Koalitionspartner wohl mitträgt und mit verantwortet. Die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer hatte sich seit Jahren abgezeichnet. Hätte Frau Merkel ihre Nächstenliebe schon früher entdeckt, wäre ausreichend Zeit geblieben, die logistischen Vorbereitungen für eine Aufnahme von Asylbewerbern in Deutschland zu treffen. Auch diesbezüglich hat die SPD ihre Verantwortung nicht wahrgenommen. Die Frage ist, wie lange Teile der Bevölkerung dieses Versagen noch akzeptieren. Die Zeit von Merkel ist abgelaufen. Wir erwarten, sollte vielleicht schon bald die Vertrauensfrage und/oder ein Misstrauensvotum im Bundestag vorgetragen werden, dass die SPD einem solchen Votum zustimmt und wieder zu einer eigenen Kontur findet. Diese Chance zu ergreifen, wäre allein deshalb wichtig, weil aufgrund der verfehlten Flüchtlingspolitik die AfD mit großer Wahrscheinlichkeit 2017 in den Bundestag einziehen wird. Dann hätte die SPD keine Möglichkeit mehr, eine linke Mehrheit zu erreichen und den Kanzler zu stellen – wohl aber ein großes Maß der Verantwortung diesbezüglich durch ihre Entscheidung 2013.

Betrachtet man die politische Entwicklung in Europa, dann fällt auf, dass aufgrund der Flüchtlingsproblematik rechte Parteien immer mehr an Boden gewinnen (vgl. z. B. die jüngsten Wahlen in der Schweiz, in Wien und in Polen). Auch deshalb wäre es notwendig, dass Deutschland durch die Bildung einer linken Regierung ein politisches Gegengewicht zu den Rechtstendenzen und unüberhörbaren faschistoiden Signalen in Europa herstellt.

Die Sozialdemokratische Partei kann von einer Mitverantwortung für die verfehlte Entwicklungs‐ und Flüchtlingspolitik nicht freigesprochen werden. Auch und gerade deshalb muss künftig eine glaubwürdige und ehrliche Politik gemacht werden, die vorausschauend handelt und sich nicht im Nachhinein für Fehler rechtfertigt und dabei öffentlich auch noch die Unwahrheit sagt.

Es liegt auf der Hand, dass für eine Wahlkampfstrategie 2017 die bisherigen Führungspersonen in der SPD nicht in Frage kommen, denn es hat sich schon bei Herrn Steinmeier als Kanzlerkandidat gezeigt, dass man nicht vier Jahre „vertrauensvoll“ zusammenarbeiten und danach engagierten Wahlkampf gegeneinander machen kann. Deshalb muss die SPD an neue, im Politikalltag nicht verschlissene und im Kern ihrer Auffassungen ehrliche demokratische Personen die Führungsaufgaben vergeben. Dies muss kein aktiver Politiker/keine aktive Politikerin sein, jedoch eine herausgehobene öffentliche Funktion ausüben. Wir denken dabei z. B. an den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Voßkuhle, den Vorsitzenden des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Schneider, oder an einen Politikwissenschaftler bzw. Parteienforscher, bspw. von der FU Berlin. Für die bevorstehende programmatische und interfraktionelle Arbeit halten wir linke, engagierte, erfahrene und rhetorisch begabte Politiker wie Parteivize Ralf Stegner für unverzichtbar. In diese Arbeit sollten auch die von Frau Fahimi vor einigen Monaten vorgetragenen Wahlmodalitäten einfließen.

Des Weiteren sollte überlegt werden, ob die Schaffung eines neuen Flüchtlingsministeriums oder die Zusammenlegung mit dem Entwicklungshilfeministerium sinnvoll wäre, denn Flüchtlingspolitik ist auch die Korrektur einer verfehlten und in ihrer Bedeutung unterschätzten Entwicklungshilfepolitik der letzten Jahrzehnte. Die SPD hat in den letzten Monaten das von ihr favorisierte Einwanderungsgesetz gegen den Widerstand der CDU leider nicht durchgesetzt. Offenbar ist die CDU noch immer der Ansicht, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei und sich deshalb ein Einwanderungsgesetz erübrige. Was für eine Fehleinschätzung! Oder geht es lediglich darum, der
SPD einen Erfolg auf einem wichtigen Politikfeld nicht zu gönnen?

Der grüne OB Palmer, Tübingen, von Hause aus Mathematiker, sagte beim Parteitag der Grünen am 10.10.2015, wenn der Flüchtlingsstrom so anhalte wie bisher, bräuchte man „mindestens zehnmal mehr Fördergeld für sozialen Wohnungsbau, als der Bund bisher gibt, die Stadt selbst müsste die eigenen Wohnungsbau‐Anstrengungen verdoppeln, jene im sozialen Bereich sogar verfünffachen“ (Süddeutsche Zeitung v. 12.10.2015, S. 3). Und Herr Gabriel forderte, der Bund müsse die den
Ländern und Kommunen zugesagten 6‐8 Milliarden Euro „verstetigen“, um die Flüchtlingskrise zu bewältigen. Schon heute ist klar, dass die sog. „schwarze Null“ von Herrn Schäuble angesichts der finanziellen Belastungen für Bund, Länder und Gemeinden eine Utopie ist. Sie sollte ohnehin nur den Menschen, die politisch nicht informiert sind, suggerieren, der Staat habe keine Schulden. Faktisch hat die Bundesrepublik jedoch mehr als zwei Billionen Euro Verbindlichkeiten. Sie wird diese, genauso wenig wie Griechenland und die anderen europäischen Länder, je zurückzahlen können. Auch die projektierte Schuldenbremse ab 2020 ist nur noch Makulatur. So wäre es auch sinnvoll, der Empfehlung der Weltbank auf Schuldenerlass für Länder wie z.B. Griechenland stattzugeben und nicht eine Austeritätspolitik in erpresserischer Manier in Mißachtung der Souveränität anderer Nationen durchzuziehen, deren Zeche letztlich die bezahlen, die die Staatsverschuldungen nicht verursacht haben, die sich nicht einmal mehr lebensrettende Medikamente leisten können und als Menschen gedemütigt werden. Auch diesbezüglich scheint die SPD ihre soziale Verantwortung abgegeben und an das „Kapital“ delegiert zu haben.

Herr Gabriel stellte auf dem „Perspektivkongress“ am 11.10.2015 in Mainz u.a. fest: „Wir Sozialdemokraten sind Experten für große Sachen. Kleine können die andern auch“. Eine wirklich große Sache wäre es, wenn sich eine „Vereinigte Linke“ unter Führung der Sozialdemokraten den Ursachen der weltweiten Flüchtlingsströme von derzeit ca. 60 Millionen Menschen zuwenden würde. Die SPD kann nach unserer Ansicht davon ausgehen, dass sowohl die Grünen (mit Göring‐Eckardt als Parteivorsitzender), als auch die Linke diese Aufgabe unterstützen würden. Neben Wirtschafts‐ und Klimaflüchtlingen stellen Kriegsflüchtlinge die größte Gruppe dar. Ziel einer gemeinsamen Politik müsste es deshalb sein, Waffenproduktion und ‐lieferungen künftig weltweit zu ächten und damit Kriegen und ihren Folgen den Nährboden zu entziehen. Um dies zu erreichen, ist es notwendig, dass die drei Parteien eine europäische Initiative planen und Europa zusammen mit anderen Staaten eine entsprechende UNO‐Resolution durchsetzen, die von möglichst vielen Mitgliedstaaten unterschrieben und unterstützt wird.

In diesem Zusammenhang sollte ein weiterer Antrag zum Ziele haben, dass nach 70 Jahren die UNO endlich dahingehend reformiert wird, dass das Veto‐Recht der ehemaligen fünf Siegermächte im Sicherheitsrat aufgehoben und zu einem regulären und gleichwertigen Stimmrecht umgewandelt wird. Es ist ein Anachronismus, dass in einer demokratischen Institution einstimmig gefasste Beschlüsse des Sicherheitsrates durch das Vetorecht eines einzigen Landes blockiert werden können. Tariq Ali, ein pakistanisch‐britischer Autor und Hiostoriker stellt in seinem neuen Buch „The Extreme Centre – A Warning“ (2015), wie Peter Stäuber in der WOZ (Nr. 33, vom, 13.08.2015, Seite 9) berichtet, lapidar fest, dass die Sozialdemokratie überflüssig geworden sei und seit sie sich in den neunziger Jahren dem Kapital unterordnete, habe sie auch dem demokratischen Prozess den Rücken gekehrt und sich damit zum Selbstmord entschlossen. Alles, was sie heute ihren Anhängern noch bieten könne, seien leere ideologische Floskeln, während eine reaktionäre Finanzmaschinerie in der EU den Ton angebe, bei den Medien eine neue Kultur der Konformität zu beobachten sei und die Symbiose zwischen Macht und Geld extreme Ausmaße angenommen habe. Bleibt die Frage, ob sich die SPD aus diesen Verstrickungen lösen und wieder zu ihrer eigenen Geschichte zurückfinden kann. Wir sind optimistisch, dass die oben skizzierten Initiativen erfolgreich sein können, weil von der Gründung einer neuen Parteienkoalition ein Impetus ausgeht, der von einer Vielzahl von Menschen getragen wird und wirklich Veränderungen erreichen kann, zumal die neue Shell‐Studie belegt, dass immer mehr junge Menschen ihr Interesse an Politik entdecken und die junge Generation sich im Aufbruch befinde, anspruchsvoll sei und mitgestalten und neue Horizonte erschließen will. Wir sind der Meinung, dass dieser Aufbruch für ein weltweites, globales politisches Projekt genützt werden sollte. Das Engagement der jungen Menschen in unserem Lande für eine Welt ohne Waffen und Krieg wird zu einer internationalen Solidarität sowie zu einer Verbesserung der Lebensverhältnisse aller führen.

gez.: Hans Eberwein & Georg Feuser

Prof. Dr. Hans Eberwein
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